Nach der abgeschlossenen Wartung einer Turbine wurden die Gaslieferungen aus Russland über Nord Stream 1 lediglich gedrosselt wieder aufgenommen. Dadurch wird ein Befüllen der Gasspeicher für den kommenden Winter deutlich erschwert. Auch die Drohungen des russischen Präsidenten lassen befürchten, dass sich die bereits bestehende Knappheit von Erdgas in Deutschland noch einmal verschärfen wird. Vor diesem Hintergrund hat sich die Fraktion Die Grünen – Rosa Liste heute für die Prüfung eines sogenannten Streckbetriebes des AKW Isar II ausgesprochen. Im Folgenden beantworten wir die wichtigsten Fragen dazu.
Was ist ein Streckbetrieb?
Beim sog. Streckbetrieb wird der Reaktor über das normale Ende eines Betriebszyklus hinaus betrieben, indem beispielsweise durch eine Dichteänderung des Kühlmittels das „Selbst-Abschalten“ des jeweiligen Kerns hinausgezögert wird. Eine ausführlichere Erklärung findet sich bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit.
Kann damit zusätzlicher Strom produziert werden und wenn ja, wie viel?
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) beschreibt den Streckbetrieb im Allgemeinen so: Vor dem Ende des Brennelementzyklus muss die Leistung zunächst reduziert werden, um die mögliche Länge des Betriebszyklus zu verlängern. Im speziellen Fall von Isar II ist das jedoch anders: Bei Isar II wurde der jetzige Zyklus bisher nach aktuellem Kenntnisstand so betrieben, dass der Streckbetrieb ohne eine Verschiebung der Leistung möglich ist. So können laut TÜV Süd zusätzlich 5 TWh Strom bis August 2023 produziert werden. Die Stadtwerke München haben diese Zahl uns gegenüber bestätigt. Zum Vergleich: München hat einen jährlichen Strombedarf von circa 6,5 TWh.
Fällt bei einem Streckbetrieb zusätzlicher Atommüll an?
Nein, es fällt kein zusätzlicher Atommüll an. Die schon bisher genutzten Brennstäbe werden lediglich stärker ausgenutzt als bisher vorgesehen (siehe Erklärung Strecktrieb).
Besteht die Gefahr, dass Isar II damit über Jahre weiter betrieben wird?
Diese Gefahr besteht nicht. Auch mit den Maßnahmen des Streckbetriebs, um den aktuellen Zyklus zu verlängern, werden durch die Kernspaltung irgendwann nicht mehr genug Neutronen erzeugt, um den Kernspaltungsprozess aufrecht zu erhalten. Der Streckbetrieb des aktuellen Kerns ist über einige Monate möglich und dann technisch nicht fortsetzbar. Wir wollen nach wie vor nicht, dass neue Brennstäbe beschafft werden, um Isar II darüber hinaus weiter betreiben zu können.
Ist ein Streckbetrieb sicher? Wie steht es um die Sicherheitsprüfungen?
Selbstverständlich muss auch die Sicherheit des Betriebs über den 31.12.2022 hinaus durch die zuständigen Genehmigungsbehörden überprüft werden.
Wieso fordern die Grünen keine Beschaffung neuer Brennstäbe?
Der Deutsche Bundestag hat 2011 nach der Atomkatastrophe von Fukushima mit sehr großer Mehrheit den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen. Wir Grüne stehen fest hinter diesem Beschluss. Die Energiekrise können wir nur bewältigen, wenn wir kurz- und mittelfristig die Erneuerbaren massiv ausbauen – nicht durch eine dauerhafte Verlängerung der Atomkraft.
Auch technisch macht diese Forderung, die es derzeit aus den Reihen anderer Parteien gibt, keinen Sinn: Die Beschaffung neuer Brennstäbe dauert in der Regel 12-18 Monate, das BMUV spricht sogar von 18-24 Monaten. Da jedoch sehr viele Länder gerade Brennstäbe beschaffen wollen, die nicht aus russischem Uran hergestellt wurden, ist eher mit einem deutlich längeren Zeitraum zu rechnen. Für die aktuelle Situation ist die Forderung nach neuen Brennstäben also schlicht nicht umsetzbar und ist somit nichts anderes als der Versuch, die derzeitige Krise zu instrumentalisieren, um den Atomausstieg durch die Hintertür zu kippen.
Was hat sich an der Bewertung der Lage im Stromsektor geändert?
Im Stromsektor haben sich noch einmal verschärfte Risikoszenarien ergeben. Zum einen wegen des massiven Ausfalls von französischen Atomkraftwerken, was sich durch die enge Verbindung des westdeutschen Stromsystems auch auf die bundesdeutsche Situation auswirkt. Zum anderen sind weitere Ausfälle von Gaslieferungen zu befürchten.
Bayern ist aufgrund des geringen Anteils an erneuerbaren Energien und der noch 2021 bundesweit höchsten Abhängigkeiten von russischem Erdgas und Öl besonders von diesen Risiken betroffen.
Deshalb hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auch jüngst den Auftrag eines erneuten Stresstests unter verschärften Bedingungen mit besonderem Blick auf die Situation in Süddeutschland erteilt.
Was hat sich an der Bewertung der Lage im Gassektor geändert?
Hier gibt es die wohl eklatanteste Änderung, die eine erneute Prüfung aus unserer Sicht notwendig macht. Die Stadtwerke München bereiten sich durch Umrüstungen (Umstellung zweier Heizwerke von Gas auf Öl) derzeit darauf vor, die Münchner Fernwärme nahezu ohne Gas bereitzustellen. Dies würde ein großes Einsparpotential für Erdgas bedeuten. Dieser Weg wäre aber nur möglich, wenn die entsprechenden Strommengen, die sonst in sogenannten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (Anlagen, die gleichzeitig Strom und Wärme herstellen) der Stadtwerke produziert werden, andernorts – beispielsweise durch Isar II – bereitgestellt werden.
Wir vermuten, dass dieser Umstand in den bundesweiten Szenarien bezüglich der Gas-Einsparung noch nicht berücksichtigt worden ist, und halten es für sinnvoll dies zu tun.
Wie viel Erdgas könnte durch diesen neuen Umstand gespart werden?
Das ist schwierig einzuschätzen, weil unklar ist, wie viel des durch den Streckbetrieb zusätzlich gewonnenen Stroms ohne diesen durch die Münchner Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen erzeugt werden würde. In einem Maximalszenario, in dem die Münchner Anlagen die Stromproduktion komplett ersetzen würden, wären es (bei einem Wirkungsgrad von 50%) 10 TWh – also circa 2/3 des jährlichen Münchner Gasbedarfs.
Dieses Maximalszenario ist zwar unwahrscheinlich, weil die Strommenge zu einem gewissen Anteil aus Kohlekraftwerken außerhalb Bayerns importiert werden könnte. Wie hoch dieser Anteil sein kann, ist jedoch höchst ungewiss: Durch Stromexporte nach Frankreich aufgrund der dortigen Situation und begrenzte Leitungskapazitäten ist dem eine Höchstgrenze gesetzt. Um hierzu eine validere Einschätzung zu haben, erscheint es uns notwendig, dass die zuständigen Bundesministerien diese Frage noch einmal ausführlich überprüfen.
Wieso sind die Stadt München beziehungsweise die Stadtwerke München mit der Thematik Isar II befasst?
Die Stadtwerke München, die eine hundertprozentig städtische Gesellschaft sind, halten 25% der Anteile an Isar II. Außerdem sind die Stadtwerke München und der Münchner Stadtrat in der Verantwortung die Energieversorgung in München, die im Bereich der Strom- und Gasversorgung von bayern- beziehungsweise deutschlandweiten Abhängigkeiten liegt, zu garantieren.
Wie steht es um die Versorgungslage in München?
Die Versorgungslage ist momentan sehr angespannt. Sowohl die Münchner Politik als auch die Stadtwerke München befassen sich neben den oben genannten Umrüstungen intensiv mit möglichen Einsparpotentialen. Obwohl hier bereits vieles auf den Prüfstand gestellt wird, sind diese Potentiale begrenzt. Wir sehen es daher als unsere Verantwortung an, auch Maßnahmen, die unseren politischen Zielen als Grüne widersprechen, wie ein Streckbetrieb von Isar II bis zum Sommer 2023, auf den Prüfstand zu stellen.